Die russische Journalistin Xenia Maximova wurde vor zwei Jahren in Berlin zur Expertin für homosexuelle Lebensweisen — und mit ihrem Wissen in ihrer Heimat berühmt. VON MARTIN REICHERT. Gary Snyder. Man betritt eine Bar. Plötzlich geht die Musik aus, das Licht geht an. Die Menschen schweigen und starren einen bedrohlich an. Ein Albtraum, den fast jeder kennt: Wer geht schon freiwillig an einen Ort, an dem er eigentlich nichts zu suchen hat. Man könnte so viel falsch machen, weil man die Spielregeln nicht kennt. Noch schlimmer: Man könnte einfach völlig ignoriert werden. Vor genau zwei Jahren hatte sich die russische Journalistin Xenia Maximova 24 auf eine Recherche mit ungewissem Ausgang eingelassen: Sie war im Rahmen eines Deutschland-Aufenthaltes angetreten, das dunkle Schattenreich der Berliner Homosexuellen zu erkunden. Die Idee verdankte die Redakteurin der Moskauer Zeitung Moskowskij Komsomolez Auflage: Deutscher Gay Cumcontrol Club 3 Millionen! Am verabredeten Treffpunkt erwartete sie dann auch ein solches, allerdings handelte es sich auch um zwei muskulöse, behaarte Herren. Die Neugierde der jungen Schreiberin war geweckt. Obwohl ihr aufgrund ihres Berufs eigentlich nichts Menschliches fremd war, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass Homosexuelle — die sie aus Moskau nur vom Munkeln und Raunen und keineswegs vom Hören und Sehen kannte — in Deutschland tatsächlich völlig offen mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen. Dem Autor dieser Zeilen wurde durch Vermittlung der taz-Auslandsredaktion die Ehre zuteil, die Dame aus dem ehemaligen Reich des Bösen als Scout in einer für sie fremden Welt an die Hand nehmen zu dürfen: Und sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Wenn sie sich überhaupt einen Schwulen hätte vorstellen können, dann höchstens im rosa Tütü. Stattdessen liefen ziemlich maskulin aussehende Männer im Casual-Outfit Arm in Arm auf dem Bürgersteig vorbei. Und dann wollte sie es aber wirklich wissen. Den folgenden Zug durch die Gemeinde würde sie jedenfalls so schnell nicht vergessen, auch wenn sie dabei notgedrungen unzählige Biere und Cocktails in sich hineinschütten musste. Teilnehmende Beobachtung nennt man so etwas im Journalismus, einem Beruf, der manchmal vollen Einsatz erfordert. Warum mögen Schwule keine Frauen? Das kann nicht sein! Doch die beiden muskelbepackten Männer stellten sich gerne für ein Foto in Positur. Und trotz martialischer Pose ein Eis essend. Der Abend endete für Xenia Maximova in der Heilen Welt, einer Schöneberger Bar, in der man, eingezwängt zwischen Herren in Wurstpellen-Shirts und besten Freundinnen, quasi gezwungen wird, Berührungsängste abzulegen. Sie recherchierte weiter, traf ein homosexuelles Paar, das ein Kind adoptiert hat, besuchte das Berliner Schwule Museum. Die Reportage aus der deutschen Hauptstadt erregte solches Aufsehen, dass ihr von der Chefredaktion eine Sonderprämie überwiesen wurde. So etwas hatten die Menschen noch nie gelesen! Bis heute ist der entsprechende Artikel auf unzähligen russischen Homepages verlinkt und wird diskutiert — zum Teil auch kritisiert. Zuvor war sie in Neubrandenburg. Verlassen von allen, auch von der eigenen Familie. Petersburg, aber das habe ich nicht geschrieben. Einer brachte sogar spontan 5. In Russland ist es ganz anders als hier. Die meisten Menschen in Russland seien damit beschäftigt, sich finanziell über Wasser zu halten. Und Gesellschaften, die von existenziellen Nöten bestimmt werden, sind in der Regel kein guter Ort für Minderheiten. Sie hat schwule Freunde gewonnen, Deutscher Gay Cumcontrol Club nur in Moskau, sondern auch in Köln, Amsterdam und Berlin. Auf durch die Clubs! Dem Pressesprecher des Moskauer Bürgermeisters Lukaschenkow — verantwortlich für das erneute Verbot des Moskauer Gay Pride — scheint es übrigens ähnlich ergangen zu sein. Man rutscht da so rein: Seine Frau, die bekannte Moskauer Sängerin Anita Zoi, hat ausgerechnet am Abend des Gay Pride ein kleines Konzert für die Moskauer Schwulen und Lesben gegeben. Xenia Maximova war auch dort. Manchmal gerät man in etwas hinein, das vorzustellen man sich vormals nicht einmal ansatzweise getraut hätte. Und ist hinterher nicht nur um eine Erfahrung reicher. MARTIN REICHERT, 34, ist taz-Autor und lebt in Berlin.
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